featured Texte

Muss ich…? – Über das Frausein, die Burka, das Hüftraster und Salat.

Muss sich eine Frau unterdrücken lassen, weil sie eine Frau ist? Muss ich diese Unterdrückung oder vielmehr ihre Symptome verbieten, obwohl sich dadurch nichts am ursprünglichen Problem ändert? Muss ich einer Frau, die potenziell vom familiären männlichen Umfeld unter Druck gesetzt wird, das Tuch vom Kopf, die Burka vom Leibe reißen und sie dafür anprangern, was Ihre Väter anrichten? Muss ich denn der geprügelten Frau die Selbstschuld auferlegen, indem ich sage: „Wie konntest du dich nur schlagen lassen? Ich verbiete dir ab sofort, jemals wieder mit einem blauen Auge auf die Straße zu gehen.“?
Muss ich die Frau, die einem religiösen Gesetz unterworfen ist, einem konträren staatlichen Gesetz unterwerfen, das sie zerreißt? Muss ich die verantwortlichen Männer vor Angst ignorieren und einen angeblichen Befreiungskampf auf den Frauen austragen?Muss ich einen Mann – egal in welche Richtung – entscheiden lassen, wie ich als Frau mich anzuziehen oder eben nicht anzuziehen habe? Muss ich die Männer einfach machen lassen? Muss ich mich ihnen unterordnen?Muss ich erst „Nein“ brüllen, wenn ich nicht will, dass mir jemand an den Hintern oder den Busen fasst? Muss ich davon ausgehen, dass es nicht reicht, dass ich es schlicht nicht erlaubt habe, dass man in meine Intimdistanz eindringt?

Muss ich es mir gefallen lassen, dass Männer sich noch nicht einmal das Recht herausnehmen, sondern es als ganz normal betrachten, mir in den Ausschnitt zu glotzen und sich dabei die Lippen zu lecken, mir um die Taille zu fassen und mir Anmachsprüche ins Ohr zu raunen, sich beim Schlangestehen von hinten an mich zu drücken und mir in den Nacken zu schnaufen? Und muss ich mir, wenn ich dieses Verhalten anprangere, von Männer und Frauen sagen lassen, ich sei verklemmt und zugeknöpft und unentspannt und zickig und außerdem sehr von mir eingenommen, dass ich glaubte, jeder liefe mir hinterher?

Muss ich als Frau eine Armlänge Abstand zu allen Männern einnehmen, meinen Rock länger machen und einen dicken Schal um mein Dekolleté wickeln, um nicht belästigt und vergewaltigt zu werden? Muss ich, falls ich doch belästigt oder vergewaltigt werde, die Schuld auf mich nehmen, falls ich zum Zeitpunkt des Vorfalls nicht in einen Ganzkörperumhang gehüllt war? Muss ich, falls ich in einen Ganzkörperumhang gehüllt bin, mir von denselben Leuten verbieten lassen, den Ganzkörperumhang zu tragen, da er dann wiederum nicht in das kulturelle Gesamtbild passt?
Muss ich mir überhaupt ständig sagen lassen, wie ich mich wo zu verhalten und zu kleiden habe und welches Verhalten anderer ich wo und wie anzunehmen habe?

Muss ich schon als Mädchen lernen, mir gewisse Dinge einfach gefallen zu lassen, weil sie „eben so sind“ und, weil ich nur dann in Frieden existieren kann ohne unangenehm aufzufallen?

Muss ich mich als Feministin und Emanze beschimpfen lassen – und zwar wieder und wieder von Männern und Frauen?

Muss ich mir von einem alten, unattraktiven, chauvinistischen Mann vorschreiben lassen, wie meine Figur und mein Outfit und mein Lebensmodell auszusehen hat? Muss ich mir von einem jungen, attraktiven, gepflegten Mann vorschreiben lassen, wie meine Figur und mein Outfit und mein Lebensmodell auszusehen hat? Muss ich mir von anderen Frauen oder Fernsehsendungen oder Magazinen vorschreiben lassen, wie meine Figur und mein Outfit und mein Lebensmodell auszusehen hat? Muss ich mir von irgendjemandem vorschreiben lassen, wie meine Figur und mein Outfit und mein Lebensmodell auszusehen hat?

Muss ich mir denn von irgendjemandem irgendetwas vorschreiben lassen?

Muss ich denn als Frau auf Leitung und Führung hoffen, weil ich selbst nicht in der Lage bin, eine Entscheidung zu treffen? Muss ich mich in meiner Freiheit beschneiden lassen, indem man mich zur Ver- oder Enthüllung, zum Ab- oder Zunehmen, zum Arbeiten oder Nicht-Arbeiten, zum Mutter-Sein-Wollen oder Nicht-Mutter-Sein-Wollen, zum Gebären oder Abtreiben, zum Sex oder zur Jungfräulichkeit zwingt?

Muss ich denn, um begehrenswert zu sein, dem Schlankheitsideal der Medien entsprechen? Muss ich, um begehrenswert zu sein, die gleiche Frisur haben, wie ein angesagter Star? Muss ich, um begehrenswert zu sein, mich einem bestimmten Bild entsprechend kleiden? Muss ich aufpassen, nie anzuecken oder laut zu werden um immer unauffällig zu bleiben? Muss ich hervorstechen und um meine Karriere kämpfen? Muss ich mich in einer Castingshow einer Jury unterordnen, die mich dann wochenlang über mein Selbstwertgefühl manipuliert und mich schlussendlich hinauswirft, weil ich „diese Woche irgendwie nicht die richtige Attitude“ hatte? Muss ich zwanzig anderen jungen Frauen vor laufender Kamera im mit buntem Drink und Bikini ausgestatteten Kampf um einen bachelor die Augen auskratzen? Muss ich brav zuhause sitzen und mich bis zur Hochzeit aufsparen?

Muss ich denn eigentlich begehrenswert sein?

Muss ich mich auf Tinder und bei der Audition und in der Bar und beim Abholen der Kinder von der Schule und in der Arbeit und überhaupt immer und überall über den Grad meiner Sexiness definieren?

Muss ich über Begrifflichkeiten wie „Busenwunder“, „Fahrgestell“, „Stiefelindex“ (Je Stiefel, desto Mmm.) oder „Hüftraster“ (Legen Sie die Daumenspitzen aneinander und breiten Sie die Hände so aus, dass die kleinen Finger rechtwinkelig zu den Daumen stehen und die Hände ein eckiges U formen. Eine Frau, deren Hüften dazwischen keinen Platz haben, ist nicht fuckable.) wirklich locker und amüsiert tun und bei bestätigter Entsprechung der einen oder anderen Erwartung geschmeichelt erröten? Muss ich mich dafür verurteilen lassen, das einfach geschmacklos zu finden?

Muss ich eigentlich „Heiratsmaterial“ sein? Ein „Objekt der Begierde“? Oder reicht fuckable? Fickbar? Gut zu knallen? Ein geiles Teil sein?

Muss ich nun eine Burka tragen oder einen knappen Bikini? Muss ich in der Öffentlichkeit stillen oder dabei nach nebenan gehen? Muss ich meine Weiblichkeit mit High Heels betonen oder mit flachen Schuhen ein Statement setzen? Muss ich Birkenstock tragen oder doch Louboutin? Muss ich Hotpants tragen, um bei den Männern anzukommen oder muss ich hochgeschlossene Blusen tragen, um im Job nicht auf meinen Kavaliergang reduziert zu werden? Muss ich Mut zu grellen Farben haben oder lieber Understatement-Dunkelblau tragen? Muss ich zu meinem Make-up stehen oder zu meiner natürlichen Schönheit? Muss ich aufessen oder übriglassen? Muss ich auf meine Kurven stolz sein oder auf meine Size Zero? Muss ich meinen Busen in einem BH präsentieren oder soll ich mich vom BH und allen damit verbunden Zwängen befreien? Muss ich meinen Babybauch stolz hervorheben oder ihn bescheiden kaschieren? Muss ich mir schick die Haare färben oder in Würde ergrauen? Muss ich mich liften lassen oder jede Falte schätzen? Muss ich mich rasieren oder nicht? Muss ich in Karenz gehen oder Leistung bringen? Muss ich sexuelle Freizügigkeit und Unabhängigkeit zelebrieren oder sesshaft werden und heiraten? Muss ich Karriere machen oder Mutter sein oder beides? Muss ich gendern oder darauf verzichten? Muss ich einen Salat bestellen oder ein blutiges Steak?

Muss ich mir all diese Fragen stellen oder nicht?

Und: Muss ich?

0 Kommentare zu “Muss ich…? – Über das Frausein, die Burka, das Hüftraster und Salat.

Hinterlasse einen Kommentar